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Die NS-Gewaltverbrechen an Roma und Sinti wurden in der unmittelbaren Nachkriegszeit und in den Jahrzehnten danach von der Mehrheit der österreichischen Nachkriegsgesellschaft verharmlost, bagatellisiert, ja sogar verleugnet.

Die strafrechtliche Verfolgung sowie die Ermittlungstätigkeit der Volksgerichte in Zusammenhang mit Verbrechen an Roma und Sinti waren ebenso unbefriedigend. Lediglich ein Bruchteil der begangenen Verbrechen war Gegenstand gerichtlicher Untersuchungen. Aus der Gesamtanalyse der bisher 23 eruierten Verfahren entsteht der Eindruck, dass es den Volksgerichten kein prinzipielles Anliegen war, NS-Verbrechen an Roma und Sinti aufzuklären oder den Unrechtscharakter des rassistisch motivierten Völkermordes zu thematisieren. Weiters weisen die untersuchten Akten auf keine mentale Verarbeitung der begangenen Verbrechen hin und können als Bestandsaufnahme von mangelndem Unrechtsbewusstsein der Täter gewertet werden. Die Erinnerung an ein schuldhaftes Verhalten gegenüber der zahlenmäßig kleinen Volksgruppe der Roma und Sinti wurde in der Nachkriegsgesellschaft aus dem kollektiven Gedächtnis ausgeklammert und die Schuld bei den Opfern gesucht. In beinahe allen Verfahren finden sich diskriminierende Feststellungen. Sie spiegeln – unter der Voraussetzung, dass Täter, ZeugInnen und das Gerichtspersonal Bestandteil der Nachkriegsgesellschaft sind – die Einstellung der österreichischen Bevölkerung gegenüber Roma und Sinti wider.

Der Großteil der Täter wurde zu niedrigen Strafen verurteilt oder freigesprochen. Beinahe die Hälfte der Verfahren wurde abgebrochen oder eingestellt. Wie viele Verbrechen im Namen des NS-Regimes ungesühnt blieben ist nicht mehr nachvollziehbar.

Verfahren gegen Dr. Tobias Portschy

Bereits vor 1938 betrieben Behörden, Polizeiorgane und Teile der Bevölkerung – auch ohne von der nationalsozialistischen Gesinnung überzeugt zu sein – eine konsequente Ausgrenzungspolitik gegenüber Roma und Sinti. Allerdings nahm die Verfolgungspolitik mit dem »Anschluss« im März 1938 weitaus radikalere Dimensionen an. Stellvertretend für das menschenverachtende NS-Regime im Burgenland steht Dr. Tobias Portschy, der führend an der Verfolgung, Vertreibung und Deportation der burgenländischen Roma beteiligt war.

Der Prozessakt gegen Portschy weist ein eklatantes Desinteresse der Volksgerichte hinsichtlich der Verbrechen an Roma und Sinti auf. Der Tatbestand der Illegalität, seine Tätigkeit als illegaler Gauleiter des Burgenlandes und Gauleiterstellvertreter der Steiermark sind Hauptbestandteil des Volksgerichtsakts. Die Frage nach Portschys Rolle bei der Internierung, Vertreibung und Deportation der burgenländischen Roma in Anhalte- und Konzentrationslager ist im gesamten Verfahren nie Gegenstand ernsthafter Untersuchungen.

Obwohl der Staatsanwaltschaft Graz bekannt war, dass Portschy 1938 die Propagandaschrift »Die Zigeunerfrage« verfasst und herausgegeben hatte, wurde dennoch nicht weiter in diese Richtung ermittelt. Am 28. März 1949 wurde Portschy wegen Illegalität und seiner Funktion als stellvertretender Gauleiter der Steiermark zu 15 Jahren schwerenn Kerkers und Vermögensverfall verurteilt. Am 23. Februar 1951 wurde Portschy begnadigt und bedingt aus der Haft entlassen. Im Zuge der »NS-Amnestie 1957« wurde die Reststrafe nachgesehen und die Verurteilung als getilgt erklärt.

Verfahren gegen Franz Langmüller (Lagerleiter des so genannten »Zigeuneranhaltelagers« Lackenbach)

Die im Zuge des »Festsetzungserlasses« vom 17. Oktober 1939 und des »Erlasses zur Errichtung von Sammellagern« vom 31. Oktober 1940 errichteten »Zigeuneranhaltelager« dienten nicht nur als Arbeits- und Anhaltelager, sondern auch als »Zwischenstation« oder »Durchgangslager« vor der späteren Deportation.

Das Lager Lackenbach im Bezirk Oberpullendorf wurde im Herbst 1940 »eröffnet« und bestand bis April 1945. Eine ehemalige Scheune und ein desolater Schafstall dienten als Wohn- und Schlafstelle. Die Räume waren mit Menschen überfüllt. Das Stroh, auf dem die Lagerinsassen schliefen, war mit Ungeziefer verseucht. Sanitäre Einrichtungen gab es so gut wie keine. Mangelhafte Ernährung, harte Arbeit, strenge Disziplinierungsmaßnahmen und permanente Angst vor Misshandlung, Demütigung und Züchtigung prägten den Alltag des Lagerlebens. Bis zu 250 Menschen starben an den Folgen von Krankheit oder Misshandlung. Besondere Vorfälle wurden im Lagertagebuch von Lackenbach vermerkt. Dieses in den Gerichtsakten enthaltene Dokument ist u. a. eine wichtige Quelle für die Erforschung der NS-Verbrechen im Lager Lackenbach besonders für den Zeitraum von 1941 bis 1942.

Vor den Deportationen nach Lodz (Litzmannstadt) im November 1941 oder nach Auschwitz-Birkenau 1943 wurden Verhaftungen im »größerem Stil« durchgeführt und Roma und Sinti auch aus Oberösterreich, Kärnten, Tirol, Italien und dem KZ Mauthausen nach Lackenbach überstellt.

Besonders unter der Leitung von Kriminaloberassistent und SS-Obersturmführer Franz Langmüller waren die Häftlinge in den Jahren 1941/1942 unmenschlichen Schikanen und Misshandlungen ausgesetzt. Das Verfahren gegen Langmüller wurde aufgrund von Anzeigen ehemaliger Lagerinsassen eingeleitet. Ohne diese Initiativen der Opfer selbst hätten sich Langmüller als Lagerleiter sowie drei Lagercapos niemals vor dem Volksgericht verantworten müssen.

Die Gesamtheit der Zeugenaussagen spiegelt ein Bild des Grauens und der Unmenschlichkeit wider: Essensentzug, Prügelstrafen, Einsperren, stundenlanges Appell stehen sowie demütigende Misshandlungen bei geringsten Vergehen. Dennoch wurde die Glaubwürdigkeit der ehemaligen Lagerinsassen angezweifelt. Der von den Opfern nicht mehr genau rekonstruierbare Zeitrahmen oder Tathergang wurde vom Gericht als Argument dafür herangezogen, dass die »Aussagen der Zigeuner nur mit Vorsicht aufzunehmen« wären. Dieser Umstand ermöglichte es den meisten Beschuldigten, die gegen sie erhobenen Anschuldigungen abzuwehren, indem sie die Schuld an ihren »Vergehen« den Opfern zuschoben. Lediglich zwei bestimmte Vorgehensweisen gegen die Lagerinsassen verurteilte das Volksgericht Wien als »allzu drastische Erziehungsmittel«, die den »natürlichen Begriffen von Menschlichkeit und Menschenwürde widersprechen«.

Franz Langmüller wurde am 15. Oktober 1948 zu einer einjährigen Kerkerstrafe verurteilt. Nach nicht ganz zweieinhalb Monaten Haft wurde Langmüller entlassen, da die Untersuchungshaft und nachträglich auch die Internierungshaft in Glasenbach auf die Strafhaft angerechnet wurden.

Das Lager Lackenbach wurde lange Zeit nicht als Haftstätte im Sinne eines Konzentrationslagers eingestuft, da es der Kriminalpolizei unterstand und zum Zweck der »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« als »kriminalpräventive Maßnahme« eingerichtet worden war, um ein »Herumziehen dieser Menschen zu verhindern.«

Derartige Schlussfolgerungen hatten bis in die 1980er Jahre fatale Auswirkungen auf die Geltendmachung von Haftentschädigungsansprüchen der ehemaligen Lackenbacher Häftlingsgruppe bei den Opferfürsorgebehörden. Erst im Gedenkjahr 1988 wurden dem jahrelangen Beharren der Opferverbände und engagierter HistorikerInnen nachgegeben und Entschädigungszahlungen zugesagt.

Verfahren gegen Dr. Wilhelm Beiglböck (medizinische Versuche)

Die gerichtlichen Untersuchungen der in den Konzentrations- und Vernichtungslagern an Roma und Sinti begangenen NS-Gewaltverbrechen wie Auschwitz-Birkenau, Ravensbrück oder Dachau beschränken sich nach bisherigem Forschungsstand auf einige wenige Verfahren.

Besonders unmenschlich waren medizinische Experimente an Häftlingen – auch an Roma und Sinti. Für die so genannten »Experimente zur Entsalzung von Meerwasser« an Roma und Sinti auf der Luftwaffen-Versuchsstation im Dachauer Häftlingskrankenbau im Sommer 1944 unter der Leitung von Dr. Wilhelm Beiglböck wurden bis zu 60 Roma und Sinti aus anderen Konzentrationslagern nach Dachau gebracht – darunter vermutlich auch ein österreichischer Rom.

Die Versuchsreihe zur Trinkbarmachung von Meerwasser dauerte rund sechs Wochen. Die Experimente zogen für die Versuchspersonen alle erkennbaren Symptome des Verhungerns und Verdurstens nach sich. Die Folgen waren Angstzustände, Nervosität, Aufregungszustände, Tobsuchtsanfälle, körperliche Schwäche bis hin zu Bewusstlosigkeit und Apathie. Einige krümmten sich stundenlang vor Schmerzen schreiend auf dem Boden.

Diese so genannten medizinischen Experimente waren kurzfristig Gegenstand volksgerichtlicher Untersuchung in Wien. Die Staatsanwaltschaft Wien leitete Anfang 1947 ein Verfahren gegen Wilhelm Beiglböck wegen Kriegsverbrechen, Misshandlung und Quälereien sowie Verletzung der Menschenwürde ein. Beiglböck wurde im November 1946 auf Verlangen der amerikanischen Besatzungsmacht nach Nürnberg überstellt, wo er sich im Nürnberger Ärzteprozess 1946/47 wegen der im KZ Dachau durchgeführten Experimente verantworten musste. Das eingeleitete Volksgerichtsverfahren in Wien wurde im Oktober 1947 eingestellt.


 
Weitere Informationen zum Beitrag: Roma und Sinti - »Zigeuner« im Nationalsozialismus

 
Denkschrift »Die Zigeunerfrage«
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Titelblatt der Denkschrift von Tobias Portschy, »Die Zigeunerfrage«, Eisenstadt, 1938.

Lagertagebuch von Lackenbach Urteil gegen Franz Langmüller (Auszug)

NS-Verbrechen an Roma und Sinti