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Im Mittelpunkt der NS-Medizin stand nicht die Sorge um den einzelnen Kranken, sondern um die rassistisch geprägte »Volksgesundheit« bzw. die Reinhaltung der »völkischen Erbmasse«. Das menschliche Leben wurde einer erbarmungslosen Kosten-Nutzen-Rechnung unterworfen. Die Vernichtung der »Minderwertigen« oder Nichtleistungsfähigen war ein zentrales Anliegen des Nationalsozialismus und fußte auf rassistischen und rassenhygienischen Vorstellungen vorangegangener Jahrzehnte. Die Verbrechen der NS-Medizin umfassten vielfältige Aspekte: die Entrechtung, Ausgrenzung und Vertreibung jüdischer ÄrztInnen und HochschullehrerInnen, die grausamen Experimente an KZ-Häftlingen, die staatlich angeordneten Zwangssterilisierungen sowie die Vernichtung von »lebensunwertem Leben« (zu Unrecht »Euthanasie«, griechisch »schöner Tod«, oder »Gnadentod« genannt). Die Euthanasie begann im Sommer 1939 mit der Tötung von »missgebildeten und idiotischen Kindern« in eigens errichteten »Kinderfachabteilungen« (Kindereuthanasie). Im Oktober 1939 folgte die Ermordung der erwachsenen AnstaltspatientInnen in Euthanasieanstalten (Aktion »T4«), u. a. in Schloss Hartheim bei Linz. Die vor allem bei der Aktion »T4« gewonnenen Erfahrungen waren in organisatorischer, personeller und technologischer Hinsicht für den Holocaust richtungsweisend. Einige Euthanasieanstalten dienten außerdem der Beseitigung von kranken und missliebigen KZ-Häftlingen (Aktion »14f13«) sowie von arbeitsunfähigen »OstarbeiterInnen«. Nach dem Stopp der Aktion »T4« im August 1941 wurde die Euthanasie dezentral in den einzelnen psychiatrischen Anstalten fortgeführt. Der Übergang von der Zwangssterilisierung zur Ermordung der behinderten, psychisch kranken und unangepassten Menschen fiel zeitlich nicht zufällig mit dem Kriegsausbruch 1939 zusammen. Durch die »Ausmerzung« der »Ballastexistenzen« oder »unnützen Esser« sollte der nach Ansicht der Nazis vor sich gehenden »negativen Auslese« – Tod oder Verstümmelung der Gesunden infolge des Krieges versus Überleben der Kranken – entgegengewirkt werden. Grundlegendes Motiv für den Massenmord war die radikale Einsparung von Sozialkosten (Spitalsbetten, medizinischem Personal, Nahrungsmitteln, Medikamenten etc.) zugunsten der Kriegswirtschaft.
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